Dokumente/Documents 4/2016, 83-86.

Sigmaringen

Un projet universitaire mené actuellement par des étudiants de l’Institut du management culturel de la haute école de Ludwigsburg vise à faire comprendre aux visiteurs du château de Sigmaringen le rôle de cet épisode de l’hiver 1944/1945 dans le contexte des complexes relations franco-allemandes. Réd.

Sigmaringen von September 1944 bis April 1945

Clemens Klünemann* (* Dr. Clemens Klünemann ist Gymnasiallehrer in Baden-Württemberg und Honorarprofessor am Institut für Kulturmanagement der Hochschule Ludwigsburg.)

Von September 1944 bis April 1945 wehte die französische Trikolore über dem Schloß von Sigmaringen und suggerierte eine legale Exil-Regierung. Als Pétain Sigmaringen am 22. April 1945 verließ, wurde die Fahne eingeholt, um keine 24 Stunden später wieder gehisst zu werden – diesmal von der kämpfenden Truppe General Lattre de Tassignys.

Dieser Wechsel der französischen Trikolore auf dem Schloss innerhalb eines Tages steht symbolisch für les deux France, die sich seit der Dreyfus-Affäre unversöhnlich gegenüberstanden – und macht aus Sigmaringen einen Erinnerungsort der deutsch-französischen Beziehungen lange vor dem Elysée-Vertrag.

Vor zwei Jahrzehnten hatte der deutsch-französische Kulturrat Schriftsteller und Historiker aus beiden Ländern aufgefordert, Orte der gemeinsamen Geschichte beider Länder zu schildern. Der Begriff Ort verengte bewusst den viel weiter gefassten Schlüsselbegriff aus Pierre Noras epoche machenden Werks Les Lieux de mémoire auf topographische Orte: auf Städte, in denen sich die Erinnerung an die Geschichte der beiden Nachbarländer verdichtet. Aachen und Versailles, Verdun und Reims ebenso wie Strasbourg (bzw. Straßburg) und auch Vichy waren Themen des Buches Franzosen und Deutsche. Orte der gemeinsamen Geschichte, das 1996 gleichzeitig bei Albin Michel und im Beck Verlag erschien. Die Reihe der Orte gemeinsamer Geschichte ist natürlich viel länger als das Inhaltsverzeichnis dieses Buches, das ja auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt: Denn gehörte nicht auch genau 130 Jahre nach der berühmt-berüchtigten Schlacht Sadowa (Königgrätz) dazu, und sind nicht Pontigny und Locarno als Schlüsselorte der deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit anzusehen?

Ein weiterer Ort fehlt, und sein Fehlen ist umso bedauerlicher, als sich an ihm nicht nur die gemeinsame Geschichte beider Länder in einem dramatischen Augenblick zeigen lässt, sondern vor allem zwei grundsätzlich auseinanderstrebende Geschichtsbilder, die übrigens keinesfalls mit der jeweiligen nationalen Perspektive korrespondieren. Gemeint ist Sigmaringen an der Donau, das in rein legalistischer Sicht über ein halbes Jahr Hauptstadt Frankreichs war – mit allen Insignien, die zu diesem Status gehör(t)en: Regierungssitz, diplomatische Vertretungen und ein Staatsoberhaupt im gebührenden Ambiente. Natürlich war dies alles eine Farce, ja eine operettenhafte Inszenierung eines sterbenden Regimes, das in völliger Verkennung der realen politischen und militärischen Umstände sich selbst inszenierte. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass diese Episode in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend vergessen und lediglich als lokalhistorisches Phänomen wahrgenommen wird.

Interessanter ist dagegen schon die französische Sicht der Dinge: Auch in Frankreich ist das an der Donau sterbende Vichy-Regime einer breiteren Öffentlichkeit eher unbekannt: Diejenigen, die sich damit beschäftigen, tun dies entweder aus historischem Interesse an einem scheinbar sehr abseitigen Thema, wie beispielsweise Henry Rousso, der mit seiner These vom syndrome de Vichy womöglich zum wirkmächtigsten Chronisten der années noires geworden ist und dessen 1980 erschienene Dissertation den Titel Un château en Allemagne. Sigmaringen 1944-1945 trug; oder aber das nostalgische Motiv überwiegt, denn nicht wenige Franzosen, die Sigmaringen besuchen, stoßen hier auf das Bild eines Philippe Pétain, das den heimlichen und zunehmend ostentativen Anhängern der révolution nationale mit der heiligen Trias von Arbeit, Vaterland und Familie (travail, patrie, famille) die Gewissheit zu bieten scheint, der Marschall und Sieger von Verdun habe doch nur das Schlimmste verhüten wollen.

Pétain als ohnmächtig, aber standhaft: gegenüber dem Verräter Laval und den ultra-collaborationnistes, aber ebenso gegenüber Ribbentrop und der Gestapo, deren Gefangener er im fernen Spukschloss einer „petite bourgade calme, proprette, colorée“ (Henry Rousso) gewesen sei, Pétain als letztlich aufrechter Charakter („Warum zum Teufel wollen Sie, dass ich meine Memoiren schreibe? Ich habe nichts zu verbergen – Pourquoi diable voulezvous que j’écrive mes Mémoires ? Je n’ai rien à cacher“ legt ihm Pierre Assouline in seinem 2013 erschienenen Roman Sigmaringen in den Mund), der durch seine Entourage kompromittiert worden sei.

Dieses Bild Pétains hat über Jahre, ja Jahrzehnte die französische Wahrnehmung der „dunklen Jahre“ bestimmt, und es hatte eine eindeutig entlastende Funktion: Der Retter von Verdun konnte einmal mehr zum Retter des Vaterlandes in großer Not stilisiert werden, denn immerhin verweigerte er in Sigmaringen jegliche Zusammenarbeit. Vor diesem Hintergrund wurde er, der 1945 zum Tode verurteilt worden war, begnadigt – im Gegensatz zu Pierre Laval, Fernand de Brinon, Joseph Darnand und anderen, die mit ihm in Sigmaringen waren.

In seinen Memoiren suggerierte Charles de Gaulle, für den das Vichy-Regime „illégitime, nul et non avenu“ war, eine gewisse Identität ex negati vo zwischen Frankreich und Pétain – vor deren Hintergrund das Frankreich derLibération um so leichter mit seiner Person identifiziert werden konnte („La vieillesse du maréchal Pétain allait s’identifier avec le naufrage de la France“). Es ist dieses Abschieben Vichys in die „Mottenkiste der Vergangenheit“, wo allenfalls skurrile Episoden, über die die Geschichte scheinbar hinweggegangen ist wie über die dem greisenhaften Alter geschuldeten Irrungen und Wirrungen eines einstmals strahlenden Helden, es ist diese Abspaltung einer hässlichen Vergangenheit, an die man sich, wenn überhaupt, nur noch mit der Neugier für Kuriositäten erinnert – es ist eben diese Entlastung der Geschichte Frankreichs, die in der Tradition Jules Michelets als „roman national“ begriffen wird, wofür in französischer Perspektive Sigmaringen oftmals steht: Ein Spukschloß in der fernen Provinz, die in manchen Darstellungen wie eine Mischung aus Madame de Staëls De l’Allemagne und Bernard Nuss’ 1994 erschienenem Buch Les enfants de Faust. Les Allemands entre ciel et enfer erscheint.

Und einen literarisch mit allen Ehren versehenen Kronzeugen für diese Sicht gibt es auch: Der Arzt Louis-Ferdinand Destouches, der sich den nom de plume Céline gab und in seinem Pamphlet Bagatelles pour un massacre (1937) politisch eindeutig positionierte (Es sei ihm lieber, „von einem Deutschen erschossen als von einem Juden verblödet“ zu werden) gehörte ebenso zur Begleitung Pétains in Sigmaringen und hat durch seinen 1957 erschienenen Roman D’un château à l’autre das französische Sigmaringen-Bild entscheidend geprägt: Ohne Céline würde man nicht von Sigmaringen sprechen („Sans Céline, on ne parlerait pas de Sigmaringen“), erklärte Henry Rousso in der 1996 von France 3 ausgestrahlten Sendung Sigmaringen, l’ultime trahison. Geflissentlich ignoriert wird dabei bis heute Célines bezeichnende Antwort auf die Frage, ob denn in seinem Roman die Geschichte zu ihrem Recht komme: Er habe dieses Buch geschrieben, weil er hätte Geld verdienen müssen („D’abord j’ai écrit ce livre parce que j’avais besoin de gagner de l’argent. Il fallait que je sorte un livre. J’ai toujours écrit pour écrire, mais j’ai publié pour du fric et je me fous du lecteur“).

Célines missverstandenes Zeitzeugnis ist eine nicht unerhebliche Facette des Hintergrundes, vor dem viele französische Touristen heute Sigmaringen besuchen: So warb kürzlich das Figaro Maga zine für eine Reise an die Donau („Toute la richesse de l’Allemagne du Sud“) mit der Feststellung, dass derjenige, der die tragikomische Irrfahrt der französischen Kollaborateure in Sigmaringen („épopée tragi-comique des collaborateurs français à Sigmaringen“) verstehen wolle, sich besser nicht an die örtlichen Fremdenführer halten solle, denen dieses Thema unangenehm sei: „Mieux vaut lire D’un château à l’autre, où la verve et le verbe de l’alchimie célinienne transforment le plomb en or...“

Kondensat des anderen Frankreich

Die Stadt- und Schlossführungen in Sigmaringen sprechen das Thema Vichy durchaus und ohne Vorbehalte an und thematisieren, bis vor kurzem auch von Sigmaringer Zeitzeugen unterstützt, die keinesfalls feindlichen Reaktionen der Bevölkerung auf die Einquartierung der Vichy-Regierung in ihrer Stadt, die Henry Rousso insinuiert („Si le cadre est accueillant, la population, elle, est résolument hostile“). Was allerdings in Sigmaringen fehlt, ist eine auch einem breiten Publikum verständliche Darstellung der überaus komplexen Rolle, welche Sigmaringen in den deutsch-französischen Beziehungen spielt: von der spanischen Thronanwartschaft des Fürsten Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen (1835–1905) im Vorfeld des deutsch-französischen Krieges von 1870/ 1871 bis zu jenem Winter 1944/1945, als nicht „Paris an der Donau“ lag, wie der Titel eines SWRFilms von 1998 nahelegt, sondern als sich die vier Jahre des Vichy-Regimes quasi auf kleinstem Raum verdichteten.

Mit anderen Worten: Sigmaringen ist eben nicht nur eine „épopée tragicomique“ und man erfasst das Thema auch nicht, indem man dem Wohnsitz Pétains und Lavals den Nimbus eines Spukschlosses verleiht (Le château qui hante ist der geplante Titel einer demnächst erscheinenden französischen Dokumentarsendung über die letzten Kriegsmonate in Sigmaringen). Der Aufenthalt der Vichy-Regierung sowie der ultra-collaboratonistes in Sigmaringen ist vielmehr als Kondensat des anderen Frankreich zu sehen: In Abgrenzung zum de Gaulle-Frankreich der Libération, zum Frankreich der neu zu gründenden Vierten Republik, zum laizistischem Frankreich der Menschenrechte und des Frauenwahlrechts verkörpern die im Herbst und Winter 1944 in Sigmaringen gestrandeten Franzosen den bis zur Kenntlichkeit entstellten Wesenskern des Vichy-Regimes, zu dem der Antisemitismus ebenso gehörte wie die grundsätzliche Ablehnung der Republik; und die Idolatrie eines starken, autoritären Staates war unter den Vichy-Franzosen in Sigmaringen ebenso verbreitet wie die Sehnsucht nach Befehl und Gehorsam, nach Konformität und Organisation, nach Dynamik und Kampf.

All diese Facetten des fascisme à la française wurden bereits seit den dreißiger Jahren von Leuten wie Fernand de Brinon, Joseph Darnand, Jean Luchaire und auch Louis-Ferdinand Céline sowie Jacques Doriot propagiert – im Herbst 1944 finden sie sich in Sigmaringen wieder und angesichts dieser französischen Nationalsozialisten spielten Pétain und Laval nur Statistenrollen und dienten lediglich dazu, dem sterbenden Regime eine Fassade von Legalität zu geben.

Aber Sigmaringen war in diesem Winter 1944/1945 nicht nur der Sammelpunkt der französischen Révolution nationale: Paradoxerweise trafen sie hier auf die Deutschen, mit denen sie nicht erst seit der 1940 propagierten deutsch-französischen Kollaboration harmonierten: Der rührige Organisator von Jugendbegegnungen aus den 1920er-Jahren und inzwischen zu Hitlers Statthalter in Paris avancierte Otto Abetz durfte in der Sigmaringer Karlstraße noch einmal im Diplomatenornat Botschafter spielen und von einem neuen Europa unter deutsch-französischer Führung (die Reihenfolge war ihm wichtig!) träumen, und Karl Epting, Friedrich Sieburg sowie Gerhard Heller, die während der vier Besatzungsjahre im Dienste der deutschen Botschaft in Paris das Kulturleben der französischen Hauptstadt im Sinne der Besatzer zu prägen versucht hatten, gehörten ebenfalls zu den dramatis personae, die in Sigmaringen auf kleiner Bühne den letzten Akt eines autoritären, republikfeindlichen und antisemitischen Europa aufführten.

Gegen die Dämonen

Vor den für Europas Schicksal entscheidenden Wahlen sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, in deren Vorfeld die populistischen Extremisten beider Länder den Schulterschluss suchen, muss man sich fragen, ob die skurrile deutsch-französische Kollaboration im Winter 1944/1945 wirklich der letzte Akt war und ob die Sigmaringen-Episode tatsächlich Geschichte geworden oder nicht eher als „mémoire chaude“ (Benjamin Stora) zu betrachten ist. Ist Sigmaringen nicht im besten Sinne ein deutsch-französischer Erinnerungsort, insofern sich hier die dunkle Vorgeschichte, ja die Dämonen der deutsch-französischen Beziehungen manifestieren, die der Elysée-Vertrag von 1963 zu bannen versuchte – und die in einem Europa, das auseinanderzubrechen droht, wieder lebendig werden können? Ein aktuelles Projekt von Studierenden des Instituts für Kulturmanagement der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg hat zum Ziel, den Besuchern von Sigmaringen die Episode des Winters 1944/1945 als Schlüssel zum Verständnis der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert zu vermitteln: Denn ohne die Kenntnis der inneren Spannungen Frankreichs seit der Dreyfus-Affäre und ohne das Wissen um die deutsch-französische Begeisterung der 1920er- und 1930er-Jahre für die „faschistische Versuchung“ (Raymond Aron) liegt es tatsächlich nahe, die Erinnerung an die Vichy-Franzosen in Sigmaringen als fernen Spuk zu verkennen – und zu verharmlosen.

Über Sigmaringen hat Dokumente/Documents bereits mehrmals berichtet, vor allem in französischer Sprache, z. B. über die französischen Rechtsintellektuellen in Sigmaringen in der Ausgabe 4/2013 (Collaboration et fiction) und über das Buch Sigmaringen von Pierre Assouline in der Ausgabe 4/2014 (Une fiction inimagi nable).